Die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten

Sachverhalt

Nach heftiger Debatte verabschiedet der Bundestag eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116 AFG). Dieser Paragraph regelt, unter welchen Voraussetzungen die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet ist, Arbeitslosengeld im Falle von Streiks zu zahlen. Der Bundesrat stimmt der Änderung zu.

Das gegengezeichnete Gesetz wird dem Bundespräsidenten (BP) zur Ausfertigung vorgelegt. Dieser weigert sich, das Gesetz auszufertigen, weil er es für verfassungswidrig hält.

Die Bundesregierung (BR) möchten wissen, ob und mit welchen Erfolgsaussichten sie die Entscheidung des Bundespräsidenten gerichtlich überprüfen lassen kann. Die Bundesregierung fühlt sich durch die Weigerung in ihrem Recht aus Art. 76 I GG verletzt.

Hat ein Organstreitverfahren vor dem BVerfG Aussicht auf Erfolg?
 

Bearbeitungshinweis: Es ist davon auszugehen, dass § 116 AFG nicht evident verfassungswidrig ist.

Die Fallhistorie

In der Praxis haben deutsche Bundespräsidenten seit 1949 bisher acht Mal unter Beanspruchung eines Prüfungsrechts die Unterzeichnung beschlossener Gesetze verweigert. Zuletzt Horst Köhler, CDU. Im Oktober 2006 unterzeichnete er das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung nicht und wenig später verweigerte er seine Mitwirkung beim Verbraucherinformationsgesetz.

Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ist seit Jahren ein absoluter Klassiker im Staatsrecht. Im Examen taucht vermehrt auch die Konstellation der Prüfungskompetenz des Bundeskanzlers oder Bundesministers auf. Hier können die meisten Argumente allerdings übertragen werden.  

Der Problemkreis

Gemäß Art. 82 I GG werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Problematisch ist, was passiert, wenn der Bundespräsident die Ausfertigung verweigert, weil er das Gesetz für verfassungswidrig hält.

Lösungsskizze

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit: Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG

II. Parteifähigkeit: Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG

III. Antragsgegenstand: § 64 I BVerfGG

IV. Antragsbefugnis, § 64 I BVerfGG

V. Form und Frist: § 64 II, III BVerfGG, § 23 BVerfGG

VI. Zwischenergebnis: Organstreitverfahren zulässig (+)

B. Begründetheit

I. Eigenes verfassungsmäßiges Recht der Antragsteller

II. Eingriff in dieses Recht

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

1. Formelles Prüfungsrecht

2. Materielles Prüfungsrecht

a) Wortlaut

b) Historisch

c) Systematisch

e) Art. 20 II GG

f) Art. 20 III GG

g) Umfang des Prüfungsrechts

3. Zwischenergebnis

C. Endergebnis

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Gutachten

Das Organstreitverfahren hat Aussicht auf Erfolg, wenn es zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit
Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für das Organstreitverfahren ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG.

II. Parteifähigkeit: Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG
Im Rahmen des kontradiktorischen Organstreitverfahrens müssten sowohl der Antragssteller, als auch der Antragsgegner parteifähig sein. Gem. Art. 93 I Nr. 1 GG sind dies die obersten Bundesorgane und andere Beteiligte, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dies wird durch § 63 BVerfGG konkretisiert. Sowohl die Bundesregierung als auch der Bundespräsident sind parteifähig.

III. Antragsgegenstand: § 64 I BVerfGG
Es müsste ein tauglicher Antragsgegenstand vorliegen. Dies ist gem. § 64 I BVerfGG jede rechtserhebliche Maßnahme des Antragsgegners (BP), die geeignet ist, die Rechtsstellung des Antragsstellers zu beeinträchtigen. Im konkreten Fall stellt die Nichtausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten ein rechtserhebliches Unterlassen dar. Dabei geht es um eine Pflicht, die sich direkt aus dem Grundgesetz ergibt, sodass ein tauglicher Antragsgegenstand i.S.d. § 64 I BVerfGG vorliegt.

IV. Antragsbefugnis, § 64 I BVerfGG
Die Bundesregierung müsste antragsbefugt gem. § 64 I BVerfGG sein. Sie muss geltend machen, dass der Antragsgegner sie durch sein Unterlassen möglicherweise (Möglichkeitstheorie) in eigenen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet hat. Aus Art. 76 I GG folgt das Recht der Bundesregierung, Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen. Sie könnte daraus ein Recht auf Ausfertigung und Verkündung eines ordnungsgemäß beschlossenen Gesetzes haben.

Dieses Recht könnte der Bundespräsident durch seine Weigerung möglicherweise verletzt haben. Somit liegt die Antragsbefugnis vor.

V. Form und Frist: § 64 II, III BVerfGG, § 23 BVerfGG
Gem. §§ 23 I, 64 II BVerfGG muss der Antragssteller seinen Antrag schriftlich und begründet einreichen. Die Frist für das Organstreitverfahren ergibt sich aus § 64 III BVerfGG. Die Bundesregierung muss den Antrag innerhalb von sechs Monaten beim BVerfG einreichen.

VI. Zwischenergebnis: Organstreitverfahren zulässig (+)
Das Organstreitverfahren ist zulässig.

B. Begründetheit

Das Organstreitverfahren ist begründet, wenn die Maßnahme oder das Unterlassen gegen das Grundgesetz verstößt (§ 67 I BVerfGG). Dies wäre hier der Fall, wenn der Bundespräsident die verfassungsmäßigen Rechte der Bundesregierung dadurch verletzt hat, indem er sich weigerte das Gesetz zu unterzeichnen.

I. Eigenes verfassungsmäßiges Recht der Antragsteller
Fraglich ist zunächst, ob der Bundesregierung überhaupt ein eigenes, verfassungsrechtliches Recht zusteht, das der Bundespräsident durch seine Weigerung verletzt haben könnte. Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 76 GG nur ein Recht zur Gesetzesinitiative und Beschlussfassung der Bundesregierung, jedoch ist daraus zwingend auch ein Recht dahingehend abzuleiten, dass die beschlossenen Gesetze auch in Kraft treten. Voraussetzung dafür ist gerade, dass die Gesetze im Rahmen des Art. 82 GG ausgefertigt und verkündet werden.

II. Eingriff in dieses Recht
Fraglich ist, ob durch die Weigerung des Bundespräsidenten, das Gesetz zu unterzeichnen, in das Recht der Bundesregierung aus Art. 76 GG eingegriffen wurde. Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn eine Pflicht zur Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten besteht. Eine solche Pflicht könnte sich aus Art. 82 I 1 GG ergeben. Danach werden die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Fraglich ist, ob der Bundespräsident die Ausfertigung des Gesetzes ausnahmsweise verweigern durfte. Der Eingriff in das Recht der Bundesregierung wäre dann gerechtfertigt, wenn dem Bundespräsidenten ein Prüfungsrecht zustünde.

1. Formelles Prüfungsrecht
Dem Bundespräsidenten könnte ein formelles Prüfungsrecht zustehen. Dafür sprechen der Wortlaut („nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze“) und die Systematik.

Der Bundespräsident darf also die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorschriften in Art. 76 ff. GG überprüfen. Hier ist das Gesetz formell verfassungsgemäß zustande gekommen.

2. Materielles Prüfungsrecht
Fraglich ist, ob dem Bundespräsident darüber hinaus ein materielles Prüfungsrecht zusteht. Dies ist umstritten und muss durch Auslegung ermittelt werden.

a) Wortlaut
Aus dem Wortlaut des Art. 82 I GG könnte sich ein materielles Prüfungsrecht ergeben. Dafür spricht, dass Art. 82 I GG nicht ausdrücklich über „Vorschriften des GG über das Zustandekommen eines Gesetzes“ im formellen Sinne spricht. Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass die Formulierung über das hinausgehen soll, was in Art. 78 GG an Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Bundesgesetzes normiert ist. Der Wortlaut des Art. 82 I GG gibt andererseits aber auch keinen sicheren Aufschluss über eine solche Kompetenz, sodass diese Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt.

b) Historisch
Art. 70 WRV enthielt die Formulierung „verfassungsmäßig zu Stande gekommenen Gesetze“, aus er ein formelles und ein materielles Prüfungsrecht abgeleitet wurde. Allerdings hat das Grundgesetz dem Bundespräsidenten im Gegensatz zum Reichspräsidenten bewusst eine schwächere Stellung eingeräumt, sodass auch die historische Auslegung zu keinen eindeutigen Ergebnis kommt.

c) Systematisch
Ein materielles Prüfungsrecht könnte sich aus dem Amtseid des Bundespräsidenten gem. Art. 56 GG ergeben. Der Bundespräsident ist verpflichtet, das Grundgesetz zu wahren. Dies gilt jedoch nur im Rahmen seiner ihm ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen und ergibt keinen Aufschluss darüber, welche Kompetenzen dem Bundespräsidenten überhaupt zustehen (Zirkelschluss).

Gleiches gilt für eine Herleitung des Prüfungsrechts aus der Präsidentenklage gem. Art. 61 GG.

Diese ist möglich, wenn der Bundespräsident vorsätzlich das Grundgesetz verletzt. Dieser Artikel ergibt aber ebenfalls keinen Aufschluss über die Reichweite des Art. 82 I GG. (Zirkelschluss).

Gegen ein materielles Prüfungsrecht könnte die durch das Grundgesetz getroffene Möglichkeit einer Normenkontrolle durch das BVerfG sprechen. Der Bundespräsident ist hier gerade nicht antragsbefugt. Das Verwerfungsmonopol des BVerfG ist jedoch nicht betroffen, weil der Bundespräsident kein bestehendes Gesetz verwirft, sondern gerade das in Kraft treten des Gesetzes

verhindert. Darüber hinaus kommt es im Rahmen eines Organstreitverfahrens ohnehin zu einer inzidenten Überprüfung des betroffenen Gesetzes durch das BVerfG, sodass eine Umgehung der Kompetenzen nicht vorliegt.

d) Teleologisch
Von Einigen wird die sogenannte Untrennbarkeitslehre vertreten, nach der ein materiell gegen das Grundgesetz verstoßendes Gesetz an sich auch ein verfassungsänderndes Gesetz ist, das die formellen Erfordernisse des Art. 79 I, II GG einhalten müsste. Der Bundespräsident könnte die Ausfertigung demnach aus rein formellen Gründen verweigern. In der Praxis wollten die gesetzgebenden Organe jedoch gerade nicht die Verfassungsänderung, sondern halten ihre Gesetzesbeschlüsse in der Regel für verfassungsmäßig. Das Gebot der Verfassungsdurchbrechung verlangt außerdem, dass ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Die Untrennbarkeitslehre ist daher abzulehnen.

e) Art. 20 II GG
Gegen ein materielles Prüfungsrecht könnte ebenfalls der Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 II GG sprechen. Verantwortlich für den Inhalt neuer Gesetze ist der Gesetzgeber und nicht der Bundespräsident. Allerdings ist es überzeugender, dem Bundespräsident hier eine rechtswahrende Kontrollfunktion zuzusprechen. Auch hält das GG die Gewaltenteilung selbst nicht immer konsequent ein, so etwa in Art. 80 I GG.

f) Art. 20 III GG
Wie gezeigt, führt keine der Auslegungsmethoden zu einem eindeutigen, bestechend logischen Ergebnis. Jedes Argument für ein materielles Prüfungsrecht ist beachtlichen Gegenargumenten ausgesetzt. Das Problem der materiellen Prüfungskompetenz gipfelt letztendlich daher in der Frage, ob ein Amtsträger verpflichtet sein kann, Handlungen vorzunehmen, die seiner Auffassung nach gegen das Grundgesetz verstoßen. Dies ist zu verneinen. Weder der Bundespräsident, noch ein anderer Amtsträger kann verpflichtet sein, die Verletzung der Verfassung sehenden Auges hinzunehmen. Gem. Art. 20 III GG sind sie alle unmittelbar an die Verfassung gebunden. Dem Bundespräsidenten ist daher grundsätzlich ein materielles Prüfungsrecht zuzusprechen.

g) Umfang des Prüfungsrechts
Fraglich ist, in welchem Umfang dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht zuzusprechen ist. Dabei vertritt eine vermittelnde Ansicht, dass dem Bundespräsidenten nur ein Prüfungsrecht bezüglich absolut evidenter Verfassungsverstöße zusteht (Evidenzkontrolle). Hierfür spricht, dass diese Meinung einen fairen Mittelweg zwischen „keinem materiellen Prüfungsrecht“ und „vollumfänglichen Prüfungsrecht“ darstellt. Dagegen spricht, dass sich hierfür im GG keinerlei Anhaltspunkte finden lassen.
[Anmerkung: beide Ansichten vertretbar].
Nach ganz herrschender Meinung steht dem Bundespräsidenten jedenfalls kein politisches Prüfungsrecht zu. Dies ergibt sich schon aus seiner Stellung als unselbstständiges Staatsoberhaupt ohne politische Entscheidungsbefugnis, Der Bundespräsident hat nur Integrations- und Repräsentationsfunktion, vgl. Art. 54 ff. GG.

3. Zwischenergebnis
Dem Bundespräsidenten steht ein formelles und materielles Prüfungsrecht zu, aber kein

politisches. Laut Bearbeitervermerk ist § 116 AFG nicht evident verfassungswidrig. Folgt man der Ansicht, dass der Bundespräsident die Ausfertigung nur bei einem evidenten Verfassungsverstoß verweigern darf, wäre das Organstreitverfahren hier begründet. Geht man hingegen von einem vollumfänglichen materiellen Prüfungsrecht aus, ist das Organstreitverfahren nicht begründet.

C. Endergebnis
Das Organstreitverfahren ist zulässig und je nachdem, ob man das materielle Prüfungsrecht auf eine Evidenzkontrolle beschränkt begründet oder nicht begründet.

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  Vielen Dank für die Zusendung dieses Falls an  (Stud.iur.) Jannina Schäffer!

  Auf inhaltliche Korrektheit überprüft von  (Dipl.iur.) Sinan Akcakaya.

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