Einstweiliger Rechtsschutz nach § 80 V VwGO - VG Freiburg, 08.08.2008 - 1 K 1161/08

Entziehung der Fahrerlaubnis.

Sachverhalt

E, 70 Jahre, ist Inhaber der Fahrerlaubnis Klasse B. Seit einiger Zeit kommt es zu mysteriösen Unfällen: Einige Male ist E mit anderen Verkehrsteilnehmern kollidiert, da er bei Roter Ampel ohne Verringerung der Geschwindigkeit auf den Kreuzungsbereich zweier Hauptstraßen zufuhr, dann rammte der E Fahrzeuge die vorfahrtsberechtigt von rechts her seinen Fahrweg kreuzen wollten. Nach insgesamt 7 Vorfällen dieser Art erfolgte eine Eintragung ins Verkehrszentralregister. die Behörde gab dem E schließlich auf, ein Gutachten über seine theoretische und praktische Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorzulegen. E legte die theoretische Prüfung bei technischen Prüfstelle ab und bestand diese nicht. Seinen Prüfern fiel auf, dass E die Farben Grün und Rot ständig miteinander verwechselte, weiterhin konnte er in einigen Fällen rechts von links nicht unterscheiden.

Daraufhin entzog der Oberbürgermeister der kreisfreien Stadt A dem E ohne vorherige Anhörung, aber unter Hinweis auf den Inhalt des Gutachtens, die Fahrerlaubnis. Den Bescheid erklärte er für sofort vollziehbar und begründete dies mit der Rechtmäßigkeit des Bescheides, der offensichtlichen Aussichtslosigkeit eines Rechtsmittels und mit dem Öffentlichen Interesse, welches eine sofortige Vollziehung erfordere.

E möchte nunmehr gerichtlich dagegen vorgehen und weist auf den Umstand hin, dass er nicht angehört worden ist.

Die Fallhistorie

Der Fall wurde vom VG Freiburg entschieden, nachdem der Betroffene versucht hatte gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung vorzugehen.

Der Problemkreis

Der Einstweilige Rechtsschutz nach § 80 V VwGO

Lösungsskizze

A. Zulässigkeit des Antrags

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

II. Antrag

III. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen

IV. Allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzungen

B. Begründetheit

I. Ordnungsgemäße AOSV

1. Zuständige Behörde

2. Anhörung

3. Ordnungsgemäße Begründung

II. Interessenabwägung Erfolgsaussichten in der Hauptsache

C. Ergebnis

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Gutachten

In Betracht kommt ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Form eines Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 V 1, 2. Fall VwGO.


A. Zulässigkeit des Antrags

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Der Verwaltungsrechtsweg müsste zunächst eröffnet sein. Dies ist dann der Fall, wenn auch für die Streitigkeit in der Hauptsache der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, § 80 V 1 VwGO. Vorliegend streiten die Beteiligten in der Hauptsache über die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis. Mangels Spezialzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 I 1 VwGO. Dann müsste eine öffentlich-rechtliche nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit vorliegen. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit ist vorliegend gegeben, da die streitentscheidenden Normen § 3 I StVG und § 46 FeV sind, mithin öffentliches Recht. Es handelt sich auch nicht um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit und es liegt auch keine abdrängende Zuweisung vor. Der Verwaltungsrechtsweg wäre damit in der Hauptsache eröffnet. Basierend darauf, ist der Verwaltungsrechtsweg auch für den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutz eröffnet.

II. Antrag

Der Antrag nach § 80 V 1, 2 Fall VwGO müsste statthaft sein. Das ist er dann, wenn es sich bei der Entziehung der Fahrerlaubnis um einen Verwaltungsakt handelt, der mit Widerspruch oder Klage angegriffen werden kann, wenn der Betroffene Widerspruch eingelegt und anschließend Klage erhoben hat und wenn diese Rechtsbehelfe wegen der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung keine aufschiebende Wirkung haben.

E begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs bzw. seiner Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis. Er hat Widerspruch eingelegt und Klage erhoben, aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 II 1 Nr. 4 VwGO haben diese Rechtsbehelfe jedoch keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag ist damit zunächst statthaft.

III. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen

1. Antragsbefugnis

E müsste in der Hauptsache gem. § 42 II VwGO klagebefugt sein. Dies ist vorliegend der Fall, da er Adressat eines belastenden Verwaltungsakt ist und daher die Möglichkeit besteht, dass E durch den angefochtenen Bescheid zumindest in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG verletzt ist.

2. Richtiger Antragsgegner

Der richtige Antragsgegner ist gem. § 78 I Nr. 2 VwGO (ggf. in Verbindung mit Normen des Landesrechts) die Erlassbehörde. Da A eine kreisfreie Stadt ist, ist der Oberbürgermeister auch die Erlassbehörde.

IV. Allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzungen

Die Beteiligtenfähigkeit des E folgt aus § 61 Nr. 1 Var. 1 VwGO, die des Oberbürgermeisters als Behörde aus § 61 Nr. 3 VwGO (ggf. in Verbindung mit Normen des Landesrechts). Die Prozessfähigkeit des E folgt aus § 62 Nr. 1 VwGO, die der Behörde Oberbürgermeister aus § 62 III VwGO, diese wird durch den Leiter der Behörde vertreten.

V. Zwischenergebnis

Der Antrag des E gem. § 80 V 1,2.Fall VwGO ist zulässig.


B. Begründetheit

I. Der A wendet sich gegen eine behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 II 1 Nr. 4 VwGO, der Antrag wäre schon dann zum Teil begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ordnungsgemäß erfolgt ist.

1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolgte durch die Erlassbehörde des Oberbürgermeisters und damit durch die zuständige Behörde.

2. Fraglich ist, ob E nicht vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 28 VwVfG hätte gehört werden müssen.

a) Gem. § 28 I VwVfG ist dieser direkt anzuwenden, wenn es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG handelt.

aa) Dann müsste es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung um eine Maßnahme einer Behörde auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts mit Regelungscharakter handeln. Vorliegend wurde die Anordnung der sofortigen Vollziehung von einer Behörde auf der Grundlage des § 80 II 1 Nr. 4 VwGO erlassen, es handelt sich auch um eine Regelung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (StVG). Die Maßnahme als solches hat auch Regelungscharakter, da sie unmittelbar eine Rechtsfolge herbeiführt, nämlich, dass ein etwaiger Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung trifft den Rechtsbehelf des E, damit liegt eine Einzelfallregelung mit Außenwirkung vor. Danach liegen die Voraussetzungen des § 35 VwVfG vor.

bb) Die hM qualifiziert die Anordnung der sofortigen Vollziehung jedoch nicht als eigenständigen Verwaltungsakt. Sie argumentiert, dass es der sofortigen Anordnung der Vollziehung bereits an Bestandskraft fehlt. Denn diese erwächst regelmäßig nicht in Bestandskraft, weil der Antrag nach § 80 IV VwGo oder § 80 V VwGO grundsätzlich keiner Fristbindung unterliegt. Zum anderen spricht gegen eine Qualifizierung der sofortigen Vollziehung als Verwaltungsakt, dass sie nur mit den Reichsbehelfen im Sinne des § 80 IV und § 80 V VwGO angegriffen werden kann, nicht aber mit Widerspruch und Anfechtungsklage.

cc) Im Ergebnis ist der hM zu folgen und die sofortige Anordnung der Vollziehung nicht als eigenständiger Verwaltungsakt zu qualifizieren. Damit ist auch der § 28 I VwVfG nicht direkt anwendbar.

b) Es könnte sich jedoch eine analoge Anwendung des § 28 I VwVfG ergeben. Da die sofortige Anordnung der Vollziehung in die Rechte des Betroffenen eingreifen kann und es unter Beachtung des Rechtsstaatprinzips aus Art. 20 III GG und des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 I GG unzureichend sein könnte, den Betroffenen nur im Nachhinein die Möglichkeit zur Stellungnahme im Verfahren nach § 80 V VwGO zu geben. Dagegen spricht jedoch, dass eine Analogie nicht nur die Vergleichbarkeit der Interessenlage voraussetzt, sondern auch das Bestehen einer Regelungslücke. Eine solche Regelungslücke besteht hier jedoch nicht, da § 80 III 1 VwGO keine vorherige Anhörung des Betroffenen vorsieht und diese Regelung als abschließend zu betrachten ist. Hätte der Gesetzgeber eine Anhörung des Betroffenen vorgesehen, so hätte er dieses ausdrücklich vorgeschrieben.

Damit ist der § 28 I VwVfG auch nicht analog anwendbar.

c) Somit hätte der E zur Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht angehört werden müssen.

3. Ordnungsgemäße Begründung

Die ordnungsgemäße Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nach § 80 III 1 VwGO zu richten. Demnach muss sie die Schriftform einhalten und das Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehung zu begründen.

Vorliegend ist die Schriftform eingehalten worden. Fraglich ist jedoch, ob die Behörde das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Verwaltungsaktes auch inhaltlich ordnungsgemäß begründet hat. Die Behörde führte zur Begrünung an, der angefochtene Verwaltungsakt sei rechtmäßig, die Klage dagegen offensichtlich aussichtslos und die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei im Öffentlichen Interesse geboten.

Die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes ist jedoch eine selbstverständliche Voraussetzung für das Handeln der Behörde und kann als solches nicht das Interesse an einer Anordnung der sofortigen Vollziehung begründen. Weiterhin ist die Frage der Aussichtslosigkeit eines Rechtsmittels allein den Gerichten vorbehalten und allenfalls im Rahmen der Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Antrags gem. § 80 V 1 VwGO von Bedeutung. Die Begründung ein Rechtsmittel sei aussichtslos, entzieht sich der Beurteilungskompetenz einer Behörde und ist deshalb keine Begründung für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung.

Der Verweis der Behörde auf das Öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung ist lediglich eine Wiederholung des Gesetzeswortlauts des § 80 II 1 Nr. 4 VwGO. Sie hätte jedoch Gründe dafür angeben müssen, warum die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Öffentlichen Interesse steht.

Damit ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ordnungsgemäß begründet worden.

II. Interessenabwägung

Über den Umstand der nicht ordnungsgemäßen Begründung hinaus, kann der Antrag auch dann erfolgreich sein, wenn das Ergebnis einer Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des E an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, also sein Aussetzungsinteresse, das Interesse der Öffentlichkeit an der sofortigen Vollziehung der Anordnung, also dem Vollzugsinteresse, überwiegt.

1. Erfolgsaussichten in der Hauptsache

Ob das Aussetzungsinteresse des E höher als das Vollzugsinteresse der Öffentlichkeit ist, richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Insbesondere nach der Prüfung, ob der angegriffene Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist.

Wäre der E auch bei der Grundverfügung, dem Entzug der Fahrerlaubnis, nicht angehört worden, könnte dieser Fehler mit der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens gem. §§ 45 I Nr. 3, II VwVfG geheilt werden. Ein formeller Fehler in Form des unterlassenen Mitwirkungsgebotes wäre gem. § 46 VwVfG unbeachtlich.

Damit wären die Erfolgsaussichten in der Hauptsache gering.

2. Weitere Interessenabwägung

Fraglich ist, ob aufgrund der Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs in der Hauptsache der Antrag nach § 80 V 1 VwGO schon allein deswegen unbegründet ist oder ob eine weitere Interessenabwägung erforderlich ist.

Der Verzicht auf eine weitere Interessenabwägung könnte mit dem nicht schützenswerten Interesse des Antragstellers gesehen werden, von der sofortigen Vollziehung eines von einem Verwaltungsgericht als offensichtlich rechtmäßig erachteten Verwaltungsaktes verschont zu bleiben. Es kann nicht Zweck des § 80 I VwGO sein, dem Betroffenen eine „Pause“ bei der Befolgung von rechtmäßigen Verwaltungsakten einzuräumen.

Andererseits ergibt sich aus den §§ 80 II 1 Nr. 4 und 80 III VwGO eindeutig, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung nur zulässig ist, wenn ein besonderes Vollziehungsinteresse vorliegt, was zu begründen ist. Regelmäßig liegt ein besonderes Vollziehungsinteresse nicht allein durch die bloße Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes vor.

Grundsätzlich muss auch dann wenn der Rechtsbehelfs in der Hauptsache erfolglos ist, ein besonderes Vollziehungsinteresse vorliegen. Vorliegend ist dies schon allein durch die Mängel der Eignung ein Fahrzeug zu führen beim E gegeben. Denn durch diese Eignungsmängel ergeben sich für andere Verkehrsteilnehmer Gefährdungen. Daher ist ein Vollziehungsinteresse zwar gegeben, von der Behörde aber innerhalb der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht dargelegt worden.

Damit ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung in der Sache zwar zu Recht, in formeller Hinsicht jedoch fehlerhaft angeordnet worden.


C. Ergebnis

Der Antrag des E ist zwar zulässig aber unbegründet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist zwar aufzuheben, der Antrag wird jedoch im Übrigen abgewiesen. Die Behörde müsste die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtmäßig erneut anordnen.

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  Vielen Dank für die Zusendung dieses Falls an Dipl.iur. Jessica Große-Wortmann!

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