„Die missglückte OP“ (BGH 1 StR 319/03)

Sachverhalt

Der renommierte Arzt und Unfallchirurg A operierte seinen volljährigen Patienten P an der Schulter. Innerhalb dieser ersten OP war es notwendig in das Schulterblatt des P zu bohren, um so einen abgerissenen Limbus (Gelenkmeniskus) an den Pfannenrand anzuschrauben.

Vor dem Eingriff wurde P darüber umfänglich aufgeklärt.

Bei dieser OP schnitt A die Schulter mit einem Skalpell auf. Im weiteren Verlauf bohrte A in das Schulterblatt. Dabei brach jedoch die etwa 2 cm lange Bohrerspitze ab und verblieb im Schulterknochen. Etwaige Versuche die Bohrerspitze zu bergen, schlugen fehl. Dies wurde jedoch bewusst nicht im OP- Protokoll angegeben, da A um seinen guten Ruf bangte. Anschließend nähte A die Wunde zu.

Am Abend des Operationstags überraschte A den P nunmehr mit der Mitteilung, es sei doch noch mal erforderlich das Schulterblatt zu operieren. A wollte in dieser OP die Bohrerspitze herausoperieren, was er jedoch bewusst verschwieg. Er erklärte, dass auch das hintere Schulterblatt instabil wäre und eine zweite Operation notwendig sei, um ein 100 prozentiges Resultat zu erreichen. Die OP fand 4 Tage später statt.

Diese zweite OP diente einzig und allein dem Zweck, die Bohrerspitze zu bergen. Auch im zweiten OP- Protokoll wurde die Bohrerspitze jedoch nicht erwähnt.

Wie hat sich A nach dem StGB strafbar gemacht?

Die Fallhistorie

Diesen Originalsachverhalt hatte zunächst das Landgericht Freiburg zu entscheiden. Die Revision wurde am 20. Januar 2004 vom BGH entschieden.

Der Problemkreis

§§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB/ ärztlicher Heileingriff/ gefährliches Werkzeug

Lösungsskizze

Tatkomplex 1: „die erste OP“

Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand des § 223 I StGB

a) körperliche Misshandlung/ Gesundheitsschädigung

(P) Ärztlicher Heileingriff

aa) BGH: jede ärztliche Maßnahme ist tatbestandlich eine KV

bb) e.A Literatur: keine KV bei kunstgerechtem Eingriff

cc) a.A. Literatur: keine KV wenn körperliches Wohl erhöht oder bewahrt wird

dd) Streitentscheid = KV (+), Argument: Selbstbestimmungsrecht des Patienten

b) Zwischenergebnis

2. Objektiver Tatbestand des § 224 I Nr. 2 StGB (-)

(P) OP- Instrumente als gefährliches Werkzeug

3. Subjektiver Tatbestand (+)

II. Rechtswidrigkeit (-)

Einwilligung nach § 228 StGB (+)

III. Ergebnis (-)

Tatkomplex 2: „Die zweite OP wegen der Bohrerspitze“

Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB

I. Tatbestand

Wie oben

II. Rechtswidrigkeit

(P) Einwilligung nach § 228 StGB

1. Tatsächliche Einwilligung (-)

hier: Willensmangel durch fehlendes Aufklärungsgespräch

2. Mutmaßliche Einwilligung (-)

(P) Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung

III. Schuld (+)

IV. Ergebnis (+)

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Gutachten

Tatkomplex 1: „die erste OP“

Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB
A könnte sich gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit einem Skalpell in das Schulterblatt eindrang und in dieses hineinbohrte.

I. Tatbestand
Zunächst müssten der Grundtatbestand und die Qualifikation des § 223 I Nr. 2 StGB erfüllt sein.

1. Objektiver Tatbestand des § 223 I StGB
Fraglich ist, ob der objektive Tatbestand des § 223 I StGB erfüllt wurde. Dafür müsste eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung vorliegen. Körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Eine Gesundheitsschädigung ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustands.

Hier schnitt der A die Schulter des P innerhalb einer Operation auf und bohrte mit einem Bohrinstrument in den Schulterknochen. Dies ist eine üble Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden des P nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Fraglich ist, ob diese Behandlung auch „übel“ ist.

Problematisch ist, dass es sich hier um einen heilärztlichen Eingriff handelt. Streitig ist deshalb, ob ein solcher Eingriff den Tatbestand einer körperlichen Misshandlung oder Gesundheitsschädigung erfüllen kann.

a) Ansicht BGH
Nach einer Ansicht ist jeder ärztlicher Eingriff in das körperliche Wohlbefinden tatbestandlich eine Körperverletzung. Diese Ansicht will das Problem in die Rechtswidrigkeit verlagern. Demnach läge hier tatbestandlich sowohl eine körperliche Misshandlung, als auch eine Gesundheitsschädigung vor.

b) e.A. Literatur
Nach der Gegenauffassung soll tatbestandlich keine Körperverletzung vorliegen, soweit die ärztliche Maßnahme kunstgerecht durchgeführt worden ist. Zwar brach bei der OP die Bohrerspitze ab, jedoch lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen, ob A dies fahrlässig verursachte oder nicht Somit wurde in der ersten OP der Eingriff kunstgerecht durchgeführt. Nach dieser Auffassung läge daher der Tatbestand des § 223 I StGB nicht vor.

c) a.A. Literatur
Eine weitere Auffassung differenziert danach, ob der ärztliche Heileingriff zu einer Erhöhung oder Wahrung der körperlichen Gesundheit geführt hat. Wenn dies der Fall ist, soll tatbestandlich ebenfalls keine Körperverletzung vorliegen. Hier wurde die OP durchgeführt, damit die Schulter des P wieder mehr Stabilität erfährt und daher zumindest die körperliche Gesundheit gewahrt wird. Problematisch ist allerdings, dass während der OP die Bohrerspitze im Schulterknochen stecken geblieben ist und nicht entfernt werden konnte. Daher ist davon auszugehen, dass in diesem Fall keine Wahrung der körperlichen Gesundheit vorliegt, unabhängig von der Durchführung lege artis. Nach dieser Ansicht läge daher der Tatbestand des § 223 I StGB vor.

d) Streitentscheid
Da zumindest eine Ansicht zu einem anderen Ergebnis führt, ist der Streit zu entscheiden.

Für die zweite Auffassung spricht das Tatbestandmerkmal der „üblen“ Behandlung. Übel kann schon tatbestandsmäßig nichts sein, das zur Wahrung des körperlichen Wohlbefindens dient. Ärzte würden demnach tatbestandlich immer eine Körperverletzung begehen, was auch kriminalpolitisch ein verwirrendes Ergebnis darstellen würde.

Dagegen lässt sich jedoch anbringen, dass das Problem ebenfalls bei der Rechtswidrigkeit innerhalb der Einwilligung gelöst werden kann. Für die erste Ansicht spricht zudem das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Ein gegen den Willen des Patienten durchgeführter Heileingriff, wäre nämlich schon tatbestandsmäßig nicht von § 223 I StGB erfasst. Dass dem Selbstbestimmungsrecht jedoch hohe Bedeutung zukommt, hat der Gesetzgeber auch durch das Patientenrechtegesetz zum Ausdruck gebracht.

Daher ist die erste Ansicht vorzugswürdig.

b) Zwischenergebnis
Damit hat A den Grundtatbestand des § 223 I StGB erfüllt.

2. Objektiver Tatbestand des § 224 I Nr. 2 StGB
A könnte auch den Qualifikationstatbestand des § 224 I Nr. 2 StGB erfüllt haben. Die OP- Instrumente (das Skalpell und der Bohrer) könnten ein gefährliches Werkzeug darstellen. Ein gefährliches Werkzeug ist ein Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Benutzung im konkreten Fall dazu geeignet ist, erhebliche körperliche Verletzungen hervorzurufen.

Dies ist bei OP- Instrumenten grundsätzlich der Fall. Fraglich ist allerdings, ob der Tatbestand des § 224 I Nr. 2 StGB hier nicht telelogisch reduziert werden muss. Problematisch ist nämlich, dass Ärzte ohne die Benutzung der Instrumente nicht in der Lage wären, das körperliche Wohlbefinden des Patienten zu wahren oder zu erhöhen. Sinn und Zweck des § 224 I Nr. 2 StGB ist allerdings der besondere Vorwurf an den Täter, die herbeigeführte Körperverletzung durch Benutzung von gefährlichen Werkzeugen in vorwerfbarer Weise zu verschlimmern, sodass es zu erheblicheren Verletzungen kommen kann.

Daher muss diese Wertung bei ärztlichen Heileingriffen dazu führen, dass OP- Instrumente vom Tatbestand des § 224 I Nr. 2 StGB ausgeschlossen werden, vorausgesetzt sie wurden auch bestimmungsgemäß benutzt. Dies ist ausweislich des Sachverhalts der Fall, sodass § 224 I Nr. 2 StGB nicht verwirklicht wurde.

3. Subjektiver Tatbestand
A handelte auch mit Wissen und Wollen, also vorsätzlich nach § 15 StGB, sodass auch der subjektive Tatbestand erfüllt ist.

II. Rechtswidrigkeit
Fraglich ist, ob die Tat auch rechtswidrig war. Nach der Lehre vom Erfolgsunrecht wird die Rechtswidrigkeit grds. durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert. Hier kommt jedoch ein Rechtfertigungsgrund in Betracht.

Es könnte eine Einwilligung nach § 228 StGB vorliegen. Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung ist zunächst, dass ein disponibles Rechtsgut vorliegt. Dies ist bei der körperlichen Integrität der Fall. Der P müsste auch einwilligungsfähig sein. Ausweislich des Sachverhalts ist P volljährig und auch im Übrigen voll einwilligungsfähig. Bezüglich der ersten OP wurde P auch vollumfänglich aufgeklärt, sodass auch keine Willensmängel ersichtlich sind.

Damit liegt eine wirksame Einwilligung vor. Mithin war die Tat nicht rechtswidrig.

III. Ergebnis
A hat sich während der ersten OP nicht gem. § 223 I, 224 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht.
 

Tatkomplex 2: „Die zweite OP wegen der Bohrerspitze“

Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB
Fraglich ist, ob sich A während der zweiten OP strafbar gemacht hat, indem er die Operation durchführte.

I. Tatbestand
Zum Tatbestand stellen sich dieselben Probleme wie oben.

II. Rechtswidrigkeit
Problematisch könnte jedoch die Rechtswidrigkeit sein. Fraglich ist, ob auch während der zweiten OP eine wirksame Einwilligung nach § 228 StGB vorlag.

1. Tatsächliche Einwilligung
Wie bereits dargelegt, müssten die Voraussetzungen für eine tatsächliche Einwilligung vorliegen. Hier könnte der wirksamen Einwilligung ein Willensmangel entgegenstehen. Ausweisliche des Sachverhalts wurde der P nämlich nicht über die Motive der zweiten OP aufgeklärt. A erklärte P unter einem Vorwand, dass eine zweite OP nötig sei, um das hintere Schulterblatt zu stabilisieren. In Wirklichkeit wollte A die abgebrochene Bohrerspitze entfernen. Während solch einer „Bergungs-OP“ stellen sich jedoch regelmäßig andere Schwierigkeiten und Risiken, wie etwa Komplikationen bzgl. eines Entzündungsprozesses oä.

Damit fehlte es hier an einer sachgerechten und vollumfänglichen Aufklärung. In dessen Folge litt der P unter einem Willensmangel. Damit scheidet eine tatsächliche Einwilligung aus.

2. Mutmaßliche Einwilligung
Fraglich ist, ob eine mutmaßliche Einwilligung vorliegt. Die Entfernung der Bohrerspitze könnte nämlich auch im überwiegenden Interesse des P stehen. Dafür müsste diese jedoch überhaupt anwendbar sein. Dem könnte die Subsidiarität einer mutmaßlichen Einwilligung entgegenstehen. Wenn eine tatsächliche Einwilligung einholbar war, kommt eine mutmaßliche Einwilligung nicht mehr in Betracht. Dies muss dem A lediglich möglich und zumutbar gewesen sein. Innerhalb des zweiten „Aufklärungsgesprächs“ wäre es dem A durchaus möglich und auch zumutbar gewesen dem P die Wahrheit zu sagen und diesem darüber zu informieren, dass bei der ersten OP eine Bohrerspitze abgebrochen ist. Dies unterließ der A nur, um seinen guten Ruf nicht zu gefährden. Damit scheidet auch eine mutmaßliche Einwilligung aus.

Damit war die Tat auch rechtswidrig.

III. Schuld
Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Damit war die Tat auch schuldhaft.

IV. Ergebnis
A hat sich gem. § 223 I StGB strafbar gemacht.

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  Vielen Dank an Sinan Akcakaya (Dipl.iur.) für die Zusendung dieses Falls!

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